ESSAY VON PROF. EM. PETER BECKER

Den circa Fünfzigjährigen unter den heutigen Komponisten war eine schöpferische Ausgangslage beschieden, die mit ihrem Signum der Ungebundenheit und der pluralen Vielfalt ebenso befreiend wie verstörend erscheinen musste. Jan Müller-Wieland, 1966 in Hamburg geboren und seit 2007 Professor für Komposition an der Hochschule für Musik München, ist einer von ihnen. Genauer: Er ist einer von jenen, die der verlockenden postmodernen Parole "Anything goes!" die knappe Zeitdiagnose "Alles im Fluss!" entgegengehalten und zur Devise ihres künstlerischen Schaffens gemacht haben.

Diese Metapher verweist auf eine musikalische Poetik, die sich zur Geschichtlichkeit von Kunst, das heißt zu ihrer Herkunft und zu ihrer Bedeutung für die Zukunft bekennt: "Mich interessiert Musik, die durch den Rückblick vorausschaut. Zukunft ohne Vergangenheit ist für mich unvorstellbar." (J.M.-W.)"

Damit verortet der Komponist sein Schaffen im großen Strom der Geschichte, wie andererseits vielen seiner Werke Geschichten eingeschrieben sind, die sich dem Hörer gleichsam als ein narrativer Bodensatz (auch der Instrumentalmusik) mitteilen: "Rhapsodien sind alle meine Stücke." Mit Friedhelm Döhl, Hans Werner Henze und Oliver Knussen haben drei Mentoren von je eigenem ästhetischen Standort die Lehr- und Wanderjahre von Müller-Wieland begleitet, der, mit zahlreichen Preisen und Stipendien gefördert, schon bald zu den schöpferischen Eruptionen der Meisterjahre finden sollte. Dass dabei jener "Fluss" nicht zum Mainstream verkommen würde, lassen bereits die frühen Werke erkennen. Frei von Berührungsängsten und mit einer spürbaren Lust am humorvollen Tabubruch ausgerüstet, verlässt der Unangepasste gleich in seinem Opernerstling "Das Gastspiel" nach Frank Wedekinds Posse "Der Kammersänger" (1991) "die grauen Bezirke der Betroffenheit […] und gibt dem Lachen Raum, ohne den doppelten Boden auszusparen." (H.W.Henze) Solche Doppelbödigkeit teilt sich dem Hörer auch mit, wenn etwa Spott und Trauer, Erhabenes und Groteskes, Helles und Dunkles, Nonsense und Tiefsinn in Müller-Wielands komischer Oper "Der Held der westlichen Welt" nach John Millington Synge (2004/2005) enggeführt werden. Zur Falltür wird der durch viele Partituren gelegte doppelte Boden den allzu vergrübelten Kafka-Exegeten in "Rotpeters Trinklied" für hohen Bariton und Klavier nach der Erzählung "Ein Bericht für eine Akademie" (2004). In dieser klingenden Hommage an Kafka nämlich wird dessen Vorliebe fürs Groteske - grellbunt auskomponiert - mit dem Verstörenden und Abgründigen des Textes konfrontiert: Kafkas Affe wird zu einem Bruder im Leiden für Hiob, dessen Klagelied im oratorischen Melodram "König der Nacht", basierend auf dem Buch Hiob (2002/03), wiederum zu einer Art Trinklied gerät: "Die lauten Akzente der Bläser symbolisieren die Theke, an der sich Hiob den Kopf schlägt." (J.M.-W.) In solchem clair-obscur, das in Müller-Wielands Schaffen viele Spielarten kennt, scheint Elias Canettis Wort von der "gesprenkelten Wirklichkeit" nachzuklingen, wie darin andererseits das Bekenntnis zu den großen Vorbildern und Geistverwandten Schubert, Janácek und Mahler unüberhörbar ist.

Als Instrumentalist (Klavier, Kontrabass) und Dirigent ist Müller-Wieland oft auch Anwalt in eigener Sache, und er gibt damit seiner Vorstellung von Musik als einer "Körpersprache, einer Sprache, die durch den Körper erzeugt wird", hör- und sichtbaren Nachdruck. Ebenso aber wird durch die Nähe vieler Werke zum Szenischen, im allgegenwärtigen perkussiven Element, im quasi vegetativen Erblühen und Verlöschen der musikalischen Gestalten und in der unerhörten Klangsinnlichkeit der Partituren seine Musik als "Körpersprache" beglaubigt. Solcher Außensicht korrespondiert bei Müller-Wieland der Blick nach Innen: "Komponieren bedeutet das Ausleben der Triebkraft und des Seelenlebens. Stets geht es aufs Neue um Befreiungsversuche und Liebeserklärungen. Um Bindungen und Lösungen." Komponieren wird so für ihn zur existentiellen Erfahrung, zum immer neuen Versuch, im Medium der Musik "Ich" zu sagen, zur Chance und Aufgabe, auf menschliche Weise lebendig zu bleiben. Sein Versuchsfeld umfasst inzwischen über 90 Opera, darunter zwölf Bühnenwerke und vier Symphonien, Orchester- und Kammermusikwerke sowie Vokalmusik, die vom ersten Liederzyklus "Yamin" nach Gedichten von Peter Härtling (1985/87) bis zur Liebeszene "Casa Verdi" (für Mezzosopran und Klavier nach Schumanns op. 42 [Chamisso] und letzten Worten meiner Großmutter, 2010) ein in der Wahl der Sujets so vielfältiges, in der kompositorischen Umsetzung höchst inspiriertes Oeuvre mit der Vox humana überwölbt. In den Liedern und Gesängen auf Texte von Michelangelo ("Tre Canzoni si Liriche di Michelangelo Buonarroti" für Tenor und Klavier,1989) oder Frank Lanzendörfer ("Flanzendörfer-Wrackmente" für Bariton und Streichquartett, 1993) fräst sich die Musik oft schmerzhaft in das Corpus der Gedichte ein, trägt die Worte über Abgründe hinweg oder umschweigt ihr imaginäres Zentrum. Solcher Liedschatten fällt auf eine Werklandschaft von ganz und gar singulärem Zuschnitt und von einer rhetorischen Kraft, die ihresgleichen sucht. Diese Musik wandert auf jenem schmalen Grat, der das Komische und das Tragische, den Traum und die Wirklichkeit, das Innen und das Außen zugleich voneinander scheidet und ineinander aufgehen lässt. Ihr auf diesem Grat zu folgen heißt, sich auf ein faszinierendes Abenteuer einzulassen, das mit dem Hören beginnt, um im Nach- und Weiterdenken niemals an ein Ende zu kommen. Es gleicht dem Abenteuer, dem sich Jan Müller-Wieland beim Hören seiner "Musik für die Insel" ausgesetzt sieht, dem Poème Vers la flamme op. 72 von Alexander Skrjabin, gespielt von Vladimir Horowitz. Seine Begründung:
"… denn der Schwung und der Atem, der hier lebt, ist wie der Flug eines aussterbenden Adlers in unsere verdammte Zeit hinein - der Flamme entgegen."

von Prof. em. Peter Becker | Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover

 

 

pfeil links Zurück