ESSAY ZU JAN MÜLLER-WIELANDS NEUESTEM WERK

Jan Müller-Wieland erkundet in seinem Schaffen seit langem das Wechselspiel zwischen Sprache und Musik. Gut ein Dutzend Bühnenwerke sind daraus bislang erwachsen. In den zwei abendfüllenden Auftragsstücken, die das NDR-Sinfonieorchester und die Münchner Philharmoniker Mitte November erst in der Hamburger Laieszhalle und jetzt in der Philharmonie am Gasteig aus der Taufe hoben, geht Müller-Wieland nun einen Schritt weiter: Er belebt die totgeglaubte Form des "Sprechens in Musik" und stellt damit auch das Verhältnis zwischen Worten und Tönen auf eine neue Grundlage.

Das Ergebnis sprengt gewohnte Gattungs- und Ausdrucksgrenzen, ohne aber das Wissen um die Traditionen zu verleugnen: Es ist eine szenisch wirkende Musik mit ausgeprägtem Bekenntnischarakter, die keine Bühne mehr braucht, weil Theater, Oper und Konzertsaal in eins fließen.

Selbst nach Maßstäben der Gegenwartsmusik ist das eine Revolution. Die Idee, Althergebrachtes in radikal neues Licht zu tauchen, zeigt sich schon in der Themenwahl. Das zuerst 2003 für das Feldkirch-Festival entworfene und jetzt für Hamburg umfassend erweiterte Melodram "König der Nacht " entpuppt sich als vielstimmige Hiob-Saga;
in München dagegen werden in "Egmonts Freiheit " die Schattenseiten der Heldenverehrung verhandelt. In beiden Fällen hat sich Müller-Wieland die zugrundeliegenden Textcollagen selbst zusammengestellt. Vom Alten und Neuen Testament über Goethe bis zu Gedichten von Nelly Sachs und Ingeborg Bachmann reichen die Quellen.
Doch vertont im herkömmlichen Sinne wird nichts davon.

Müller-Wieland schreibt keine Kantaten oder Oratorien nach romantischem Muster, in denen eine Textvorlage nach allen Regeln der Kunst musikalisch überformt und überhöht wird. Vorbild ist vielmehr Robert Schumanns Melodram "Manfred", in dem die dramatische Erzählung Lord Byrons und der musikalische Erzählfluss weitgehend parallel laufen und aus ihrer poetischen Autonomie heraus in Wechselwirkung treten. Schumanns "Dramatisches Gedicht mit Musik" von 1848 / 52 bemüht einen Erzähler, der den vom Komponisten verdichteten Byron-Text rezitiert. Bei Müller-Wieland ist es ein Sprecher, der mit dem jeweils groß besetzten Orchester ( und in München sogar mit einem Chor ) in Wechselrede tritt.

In beiden Werken übernimmt bei den Uraufführungen Klaus Maria Brandauer diese Sprecherfunktion - mit seiner Stimme im Ohr hat Müller-Wieland die Stücke kompöoniert.

Damit ist zugleich klar, daß hier die letzten Trennschranken zwischen Konzertpodium und Theaterbühne fallen. Denn Brandauer spielt selbst da eine Rolle, wo er nur spricht. Er braucht dazu weder Kulisse noch Kostüm, bloß sich und seine Stimme, er verwandelt sich, nein, er ist Hiob, der mit Duldung Jahwes vom Satan versucht wird, der alles verliert und am Ende sich selbst findet; und er ist Egmont, der vor dem Spiegel der Geschichte erkennen muß, daß sein Freiheitsheldentum inhuman geworden und buchstäblich aus der Zeit gefallen ist.

Es ist dies mehr als imaginäres Theater, mehr als unterhaltsam-wohlgefälliges Kopfkino - das ist ein Gesamtkunstwerk, gezeugt aus Sprache, Geste und Klang. Müller-Wieland hält nichts von abstrakten Konzepten, sein Musiktheater - ob mit oder ohne Szenerie - will die Hörer mit einer Botschaft konfrontieren, ja, sie unverhohlen zur Identifikation überreden.
"Hiob ? Das bin ja ich..." lautet eine Schlüsselstelle im Hamburger "König der Nacht". Der Titel spielt nur vordergründig auf Mozarts "Zauberflöte" an; viel eher bezieht er sich auf Novalis, der die Nacht als eigentliche "Tageszeit der Seele" verstand. Der hier geschilderte Seelentrip nimmt seinen Ausgang aus unmittelbarer Gegenwartserfahrung.

Müller-Wieland schrieb die ersten Noten während des zweiten Irak-Krieges, als allabendlich beim Nachrichtenschauen "das Blut über den Wohnzimmerteppich" lief, wie die streitbare Theologin Uta Ranke-Heinemann damals, 2003, in Feldkirch sagte. Ein Jahrzehnt später sind die Hiobsbotschaften vom Zusammenbruch der Humanität in diesem wie in anderen Erdteilen nicht weniger geworden. Müller-Wieland errichtet den zahllosen Opfern ein klingendes Mahnmal, indem er das Gedicht "Landschaft aus Schreien" von Nelly Sachs von drei Frauenstimmen - den beeindruckend höhen- und intonationssicheren "Neuen Vocalsolisten Stuttgart" - singen lässt. Parallel dazu, gibt Brandauer dem Drama des biblischen Hiob Gestalt. Der mit dem Verlust aller irdischen Habe Geschlagene ist keineswegs gewillt, sein Schicksal hinzunehmen - sein Fragen und Hadern richtet er direkt wider die höchste Instanz: Was ist das für ein Gott, der all dieses Elend duldet ?

Müller-Wieland läßt ihn selbst erscheinen, in einer polymorph schillernden Geräuschcollage der Zuspiel-Elektronik, in die sich Verse der dänischen Lyrikerin Pia Tafdrup mischen.

Darin ist, überraschend, vom Glück des inspirierten Augenblicks die Rede, in dem die Seele eine flüchtige Ahnung von Gott zu erhaschen meint. Dieser Gott ist nicht mehr der strafende Richter des Alten Testaments, dem man Gutes wie Böses zuschreiben kann; er entzieht sich dem Menschen und wirft ihn, gut psychoanalytisch geschult, zurück auf sich selbst: " Ich erkenne dich... O Gott, du bist ja meine Seele !"
Die Erkenntnis der Selbst-Verantwortung für Glück und Leid beschert Hiob ein Gefühl innerer Befreiung.

'Ich wasche den Himmelsstaub von den Füßen meines Engels', singt er vergnügt.

Allegro scherzando, die Musik wird licht und luftig, entspannter Swing von Cool Jazz breitet sich aus, und der Dirigent Thomas Hengelbrock lässt diesen wahrlich erleuchteten Ausklang mit dem hochpäzise musizierenden NDR-Sinfonieorchester aufblühen zur Klangvision eines gelingenden Lebens."

Christian Wildhagen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, FAZ, 4.Dezember 2014

Drama für Sprecher, drei Sängerinnen, Zuspielelektronik und großes Orchester

 

 

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